HT 2021: Deutungskämpfe um die Rus’: Erinnerungsorte der Frühen Neuzeit

HT 2021: Deutungskämpfe um die Rus’: Erinnerungsorte der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Angela Rustemeyer, Abteilung „Geschichte und Kulturen Osteuropas“, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die neuen Nationalismen im östlichen Osteuropa berufen sich gerne auf Ereignisse und Entwicklungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Diese werden auch explizit für die Rechtfertigung hegemonialer Bestrebungen in Dienst genommen, wie SANDRA DAHLKE (Moskau) in ihrer Einführung feststellte. Schon deshalb, wäre hinzuzufügen, kann sich die westliche historische Forschung zu Russland, der Ukraine und Belarus' ihre derzeitige Vernachlässigung dieser Jahrhunderte nicht leisten. Darüber hinaus war die Frühe Neuzeit selbst höchst produktiv in der Erfindung, Symbolisierung und Medialisierung konfligierender nationaler Traditionen.

Diese Sektion suchte "Erinnerungsorte" auf, die sich im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert etablierten und an denen sich, so Dahlke, eine "neue ethnokulturelle Gruppenmythologie" der Bewohner:innen der nordöstlichen und der südwestlichen Rus' manifestierte. Als damit eng verknüpfte Entwicklungen identifizierten alle Referent:innen einen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sowohl in den Ländern der Kirchenunion von 1596 als auch in denen der Orthodoxie spürbaren Rückgang kirchlicher Dominanz sowie den Rückgang dynastischer Orientierungen. In den "Gruppenmythen" manifestiere sich eine Etappe in der Entwicklung zu primär nichtreligiös definierten modernen Nationen. Diese Mythen waren jedoch gebunden an die komplexen politischen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit und die partikularen Interessen ihrer zeitgenössischen Multiplikatoren. Ihre Analyse in diesem Kontext lässt die Legitimation von Macht- und Gebietsansprüchen im 20. und 21. Jahrhundert aus vermeintlichen Identitäten frühneuzeitlicher Akteur:innen abwegig erscheinen.

Das zeigte NATALIIA SINKEVYCH (München/ Kyïv) anhand konkurrierender Narrative über die Taufe der Rus', welche das einmalige Ereignis der Taufe des Großfürsten Vladimir/Volodymyr in eine Abfolge von bis zu fünf Phasen zerlegten. Diese Entwicklung des Narrativs nahm ihren Ausgang in einer katholischen Darstellung, welche die Ursprünge des Christentums in der Rus' in eine vom Schisma noch unberührte Zeit vorverlegte. Die wechselseitige Rezeption katholischer und orthodoxer Autoren führte, so die Referentin, Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer Version, in der die Taufe der Rus' bereits vom Apostel Andreas vorangetrieben wurde – eine Idee, die im 16. Jahrhundert in der Nordost-Rus' entstanden sei. Die Anfänge der Taufe in der Zeit der Apostel hätten deren Schauplatz Kyïv zum zweiten Jerusalem aufgewertet. Außerdem wurden die Slavenapostel Kyrill und Method in das Narrativ integriert, was ihm, so die Referentin, einen frühen panslavischen Charakter gab. In weiteren Versionen prominenter orthodoxer Autoren in Kyïv wurde allerdings sorgfältig darauf geachtet, dass die Auffächerung des Taufereignisses in einen mehrschrittigen Prozess die Autorität des Heiligen Vladimir als Vollzieher des entscheidenden letzten Schritts nicht untergrub. Vladimir stand für die Taufe der "ganzen Rus'" einschließlich des Nordostens. Seiner Taufe wurde mit dem Territorium der Boris- und Gleb-Kirche auch ein physischer "Erinnerungsort " in Kyïv zugeschrieben.

Die Kyïver Kirchenleute des 17. Jahrhunderts, die das Narrativ von der Taufe der Rus' fortschrieben, hatten, so Sinkevych, an den Kosaken als neuen Identitätsträgern kein Interesse, zumal sie in einem gespannten Verhältnis zur Kosakenelite standen. Im Moskauer Zaren sahen sie den Nachfolger des Heiligen Vladimir. Ihre Position unterschied sich gleichwohl deutlich von der späteren russländischen imperialen Vereinnahmung des Narrativs: Ihr Anliegen war es, Kyïv als zentralen Ort der Slavica orthodoxa und der Slavica unita auszuweisen, und darin entsprach ihre Sicht der ukrainischen nationalen Perspektive.

Schilderte Sinkevych einen fortgesetzten Deutungskampf, so erweckte PETR STEFANOVIČs (Moskau) reich illustrierter Vortrag den Eindruck eines bereits entschiedenen. Mit schriftlichen und bildlichen Quellen belegte der Referent die Etablierung Moskaus als russischer (hier mit zwei "s"!) "Erinnerungsort" der moskovitischen Rus‘. Entstanden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Attribuierung von Heiligkeit an die Stadt wie auch an die dort herrschende Dynastie, habe der Kult Moskaus im 17. Jahrhundert säkulare Züge angenommen. Das "Stufenbuch der zarischen Abstammung" erwähne die Gründung der Stadt, wobei die Tradierung einer von ihrer religiösen Bedeutung unabhängigen Gründungsgeschichte für Stefanovič entscheidend dazu beiträgt, Moskau als "Erinnerungsort" zu qualifizieren. Die zunächst noch religiös geprägte "Emblematisierung" der Stadt als Grundlegung ihres in späteren Jahrhunderten durchgängigen nationalen Kultstatus schloss nach der Zeit der Wirren die neue Dynastie der Romanov ein. Die Wiedereinsetzung der tradierten Ordnung nach den Wirren integrierte, so der Referent, Zar und Untertanen, für deren gemeinsame Geschichte Moskau nunmehr stehen sollte. Das Bildprogramm einer von 1671 datierenden Schilderung der Krönung des ersten Romanov-Zaren emanzipierte dann diese gemeinsame Geschichte von der Heilsgeschichte, indem es die Darstellung profaner Bauten in Moskau sowie des Staatswappens einschloss. Um zu zeigen, dass nicht nur die Elite Moskau als Fixpunkt protonationaler Identität wahrnahm, führte Stefanovič Belege aus der folkloristischen Dichtung an. Im Unterschied zum russischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts sei diese Identität jedoch auf die Orthodoxie als einzige wahre Religion sowie die Untertänigkeit gegenüber dem Herrscher orientiert geblieben und noch nicht als ethnisch begründete Gemeinschaft gedacht worden. Dass ein derart starker Topos auch kontrovers war, liegt nahe, wenngleich dies im hier gesteckten Rahmen nicht näher ausgeführt wurde.

LUDWIG STEINDORFFs (Kiel) Vortrag stellte wiederum direkt Deutungskämpfe in den Vordergrund. Steindorff untersuchte das wachsende Gewicht des Moskauer Reiches in drei aufeinanderfolgenden Auflagen der "Sinopsis" (1674, 1678 und 1681). Der Referent betrachtete die "Sinopsis" als einen doppelt, nämlich zum einen ukrainisch-national, zum anderen russisch-imperial angeeigneten "Erinnerungsort". Die Vereinnahmung für das Imperium erfolgte, so Steindorff, noch einmal ostentativ in einer Moskauer Ausgabe von 2006, während, so ließe sich ergänzen, die "Encyclopedia of Ukraine" das Werk als "erstes Handbuch der ukrainischen Geschichte" erwähnt.1

Die "Sinopsis" wurde wohl vom Archimandriten des Kyïver Höhlenklosters zwecks Sicherung der Position des Klosters nach der Unterstellung des Hetmanats unter das Protektorat Moskaus 1654 verfasst. Bereits ihre erste gedruckte Fassung unterstreiche, so der Referent, dass nunmehr die Erhabenheit Kyïvs, wie sie zu Zeiten des Heiligen Vladimir bestand, wiederhergestellt sei. Zugleich liege jedoch der Schwerpunkt dieser ersten Auflage klar auf der Schilderung einer kontinuierlichen Geschichte Rutheniens von der Zeit der Kyïver Rus' bis in die Gegenwart des Autors. In den beiden späteren Auflagen greife hingegen die Geschichte der Nordostrus' bzw. des Moskauer Reiches zunehmend Raum. So bestehe die dritte Auflage zu einem Fünftel aus der nunmehr integrierten Erzählung vom Sieg des Moskauer Großfürsten Dmitrij gegen die Tataren 1380. Steindorff vermutete, dass mit dieser Integration der Geschichte der nordöstlichen Rus'/des Moskauer Reiches in das Werk letztlich ein Autonomieanspruch verfochten werden sollte: Es lag im Interesse des Archimandriten des Kyïver Höhlenklosters, zu demonstrieren, dass die Loyalität gegenüber dem Zaren der von Moskauer Seite betriebenen Unterstellung der Kyïver Metropolie unter das Moskauer Patriarchat gar nicht bedürfe.

Die "Sinopsis" lässt, wie Steindorff hervorhob, den Kosakenaufstand von 1648 und die Gründung des Kosakenhetmanats in der Zeitgeschichte ihrer Entstehungsepoche unerwähnt. Wie ANDREJ DORONIN (Moskau) anmerkte, hatte das Werk mithin eine neue Entwicklung nicht aufgenommen, die hingegen in den Kosakenchroniken als einem anderen Grundpfeiler der ukrainischen Historiographie zum Durchbruch kam, nämlich die für die Frühneuzeit kennzeichnende Hinwendung zu partikularen nationalen Mythen.

Diese grundlegende Entwicklung beschrieb Doronin in seinem Vortrag. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die in der Frühen Neuzeit rückläufige Verbindlichkeit universalistischer Quellen der Identitätsbildung, insbesondere der Bibel, sowie die Beanspruchung des antiken Erbes für die eigene "Nation" durch die italienischen Humanisten. Diese ging mit der "Delegitimierung" der "barbarischen" Anderen einher, was bei den so Abqualifizierten Bedarf nach eigenen nationalen Identitäten mit eigener Geschichte bis zurück zu den Ursprüngen schuf. Diese Entwicklung war, wie Doronin zeigt, nicht auf West- und Mittel- bzw. Ostmitteleuropa begrenzt: Mit autochthonen Ursprungslegenden gaben sich vor allem im 17. Jahrhundert auch die Ostslaven in der nordöstlichen und der südwestlichen Rus' zeitgemäße historische Identitäten. Die orthodoxe Kirche und die Dynastie der Rjurikiden waren im Spätmittelalter noch für die einen wie die anderen identitätsbildend gewesen. Reformation und Kirchenunion in Polen-Litauen sowie das Aussterben der Dynastie im Moskauer Reich erforderten jedoch seit dem 16. Jahrhundert eine Neuorientierung. Dabei verbreitete sich im orthodoxen Adel Litauens analog zum Mythos von der sarmatischen Abstammung, der für die polnischen Standesgenossen zur dominierenden Referenz wurde, die Vorstellung von einer gentilen Identität mit den Roxolanen, die als Verwandte der Sarmaten galten. Die Dnipro-Kosaken fanden ihren autochthonen Ursprung bei den Chasaren und damit unabhängig von Polen-Litauen wie auch vom Moskauer Reich. Im Moskauer Reich wiederum verbreitete sich in den 1630er- und 1640er-Jahren eine Legende, welche die Moskauer "Rus'en" auf ein seit Anbeginn der Welt existierendes Volk zurückführt. Nachfrage nach einer solchen Legende ergab sich, so Doronin, aus dem Staatszusammenbruch in der Zeit der Wirren: Infolge dieser Erfahrung wurde nach einer noch unbekannten vorstaatlichen Vergangenheit in der Zeit vor der Kyïver Rus' gesucht. Mit einer Legende über die Skythen als Ahnen der Moskauer Rus' wurde eine "moskaurussische Antike" unabhängig von Bibel und römischem Altertum geschaffen. Die biblische Legitimation blieb dennoch über einen in der Bibel erwähnten Urahn der Skythen als Option erhalten. Eine weitere Option war, wie auch bei den von Sinkevych untersuchten Versionen der Taufe der Rus', die panslavische: Vermittelt durch ukrainische Kirchenintellektuelle, wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Moskauer Reich die Figur des Moscus als mythischer Urahn der Moskowiter rezipiert. Moscus war zunächst in polnischen Quellen aufgetreten, in denen ihm noch Sarmat als Urahn der Ruthenen und anderer slavischer Völke gegenüberstand. Die oben erörterte „Sinopsis“ erklärte Moscus dann zum Urahn des gesamten "slovenischen" (slavischen) Volkes. Allerdings, so Doronin, favorisierten die ukrainischen Geistlichen letztlich doch die Version der Ursprungslegende mit unterschiedlichen Urvätern der Moskowiter und der Ruthenen, um ihren Autonomieanspruch in der zunehmend verstaatlichten und von imperialen Interessen der Zar:innen dominierten orthodoxen Kirche zu behaupten.

Doronin bestätigte mithin ebenso wie Sinkevych und Steindorff das große Gewicht ukrainischer Kirchenintellektueller und ihrer kirchenpolitischen Interessen für den protonationalen Diskurs in der südwestlichen wie der nordöstlichen Rus‘. Dabei griffen diese kirchlichen Akteure in bemerkenswertem Maße nichtreligiöse Narrative auf und tradierten sie.

Die in dieser Sektion vorgestellten Studien entstammten einem viel versprechenden gemeinsamen Forschungsprojekt, das am DHI Moskau angesiedelt ist. In den präsentierten Fassungen setzten die Referent:innen jedoch unterschiedliche Schwerpunkte. Der augenfälligste war die Diversität der Mythen, wobei mit Gewinn auch solche analysiert wurden, die sich nicht durchsetzten. Der Vortrag über Moskau wiederum fokussierte die „erfolgreichen“ Komponenten eines protonationalen Topos und ging dabei bereits weiter in der Untersuchung seiner (trans)medialen Vermittlung.

In der Diskussion wurde eine Zusammenführung von Theorien des nation building und des "Erinnerungsorts" als Leitidee der Studien empfohlen. Dabei könnte auch noch genauer gefragt werden, welchen Mehrwert die in dem Begriff indizierte Räumlichkeit diesen Untersuchungen bringt. Von großem Interesse wäre es, wenn die Anreicherung der Narrative über differente Ursprünge z.B. um zivilisatorische Bewertungen untersucht und so der Kernzeitraum der Studien im 16. und 17. Jahrhundert noch stärker an weitere Etappen der Nationsbildung angebunden würde.

Sektionsübersicht:

Sandra Dahlke (Moskau): Sektionsleitung

Natalija A. Sinkevych (München): Die Taufe der Rus’ als umstrittener ostslawischer Erinnerungsort

Petr S. Stefanovich (Moskau): „Moskau“ als Topos gemeinsamer Erinnerung

Ludwig Steindorff (Kiel): Das Geschichtsbuch „Sinopsis“ von 1674 und 1681 – ein gemeinsamer Erinnerungsort im russischen und ukrainischen Geschichtsbewusstsein

Andrej V. Doronin (Moskau): Die Rus‘ der Frühmoderne auf der Suche nach ihren „Urvätern“

Anmerkung:
1 Gizel, Innokentii, in: Roman Senkus u.a. (Hrsg.), Internet Encyclopedia of Ukraine, http://www.encyclopediaofukraine.com/display.asp?linkpath=pages%5CG%5CI%5CGizelInnokentii.htm (30.10.2021).


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